Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung veröffentlicht eine zusammen mit dem freiheitsfoo und dem Kleindatenverein erstellte Stellungnahme [PDF] gegen die Pläne der EU-Kommission für eine Vorratsdatenspeicherung 2.0.
Die Stellungnahme wurde im Rahmen einer Sondierung der EU-Kommission zu einer Folgenabschätzung eingereicht. Eine andere wichtige Stellungnahme wurde vom europäischen Dachverband der Organisationen für Digitale Grundrechte EDRi eingereicht.
Das freiheitsfoo hat die offizielle Pressemitteilung zur Stellungnahme veröffentlicht, welche unsere gemeinsamen zentralen Forderungen gut zusammenfasst. Hier folgt darüberhinaus die komplette Stellungnahme im Wortlaut:
Stellungnahme zur Folgeabschätzung der EU-Kommission zu neuen EU-Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung Link zu Überschrift
Wir warnen vor den aktuellen EU-Bestrebungen zur Wiedereinführung des vor Gericht gescheiterten europaweiten Zwangs zur Vorratsdatenspeicherung sowie zur erstmaligen Einführung einer Identifizierungspflicht und Vorratsdatenspeicherung auch für Messenger-Dienste (Vorratsdatenspeicherung 2.0). Solche Maßnahmen sind unverhältnismäßig, ineffektiv und zögen schwere Nachteile für Grundrechte, die Gesellschaft und den digitalen Binnenmarkt der EU nach sich.
Zusammenfassung: Eindringliche Warnung vor der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung Link zu Überschrift
Eine Vorratsdatenspeicherung 2.0 wäre ein tiefgreifender und unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatsphäre und Meinungsfreiheit von 500 Mio. Europäer:innen. Sie hätte zudem gravierende “Chilling Effects” auf die vertrauliche Kommunikation, die Pressefreiheit und die Selbstbestimmung der Gesellschaft. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für ihre Wirksamkeit bei der Kriminalitätsbekämpfung; stattdessen verursacht sie erhebliche wirtschaftliche Belastungen für Anbieter, hemmt Innovationen und birgt massive Missbrauchsrisiken.
Wir fordern die EU-Kommission auf, stattdessen auf anlassbezogene, gezielte Ermittlungsinstrumente zu setzen, nationale Vorratsdatenspeicherungsgesetze zu verbieten und die anonyme Kommunikation sowie die digitale Selbstbestimmung als grundlegende Bestandteile einer freiheitlichen Gesellschaft zu schützen und zu fördern. Eine umfassende wissenschaftliche Bewertung der Auswirkungen von Überwachungsmaßnahmen ist hierfür unerlässlich.
Executive Summary: Urgent Warning Against the Reintroduction of Data Retention Link zu Überschrift
EU-level “Data Retention 2.0” requirements would constitute a profound and disproportionate interference with citizens’ privacy and freedom of expression. Furthermore, they would result in severe “chilling effects” on confidential communication, press freedom, and societal self-determination. There is no scientific evidence to support their claimed effectiveness in combating crime; instead, they impose significant economic burdens on service providers, stifle innovation, and carry substantial risks of misuse.
We urge the European Commission to instead strengthen targeted investigative tools, prohibit national general data retention laws, and protect and promote anonymous communication and digital self-determination as fundamental components of a free society. A comprehensive scientific evaluation of the impacts of surveillance measures is indispensable for this purpose.
1. Schwerer Grundrechtseingriff und “Chilling Effect” Link zu Überschrift
Die verdachtsunabhängige und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung ist die am tiefsten in die Privatsphäre eingreifende und unpopulärste Überwachungsmaßnahme, die die EU jemals hervorgebracht hat. Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung von 2006 verpflichtete alle EU-Staaten zur wahllosen Erfassung und Sammlung sensibler Informationen über soziale Kontakte (einschließlich Geschäftsbeziehungen), Bewegungen und das Privatleben (z.B. Kontakte zu Ärzt:innen, Rechtsanwält:innen und Strafverteidiger:innen, Betriebsräten, Psychotherapeut:innen, Beratungsstellen usw.) von 500 Millionen Europäern, die sich keines Fehlverhaltens verdächtig gemacht haben. Nach einer repräsentativen YouGov-Umfrage aus dem Jahr 2022, durchgeführt in neun EU-Staaten, unterstützten nur 39% der Befragten eine Vorratsspeicherung der Daten Unverdächtiger, während 42% sie ablehnten.1
Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung hat sich für viele Bereiche der Gesellschaft als höchst schädlich erwiesen. Die YouGov-Umfrage bestätigt diese gravierenden Einschüchterungseffekte (chilling effects) einer verdachtslosen Vorratsspeicherung der Verbindungen und Standortdaten der gesamten Bevölkerung: Fast die Hälfte der Befragten in Deutschland (45%) würde auf Beratung durch eine:n Eheberater:in, eine:n Psychotherapeut:in oder eine Entzugsklinik per Telefon, Handy oder E-Mail verzichten, wenn sie wüssten, dass ihr Kontakt registriert wird. Europaweit würden mehr als ein Drittel (34%) der Menschen auf notwendige soziale und medizinische Beratung verzichten.
Eine Vorratsdatenspeicherung beeinträchtigt also die vertrauliche Kommunikation in Bereichen, in denen Menschen berechtigterweise auf Nicht-Rückverfolgbarkeit angewiesen sind in erheblichem Umfang und gefährdet damit die körperliche und psychische Gesundheit von Menschen, die Hilfe benötigen - aber auch der Menschen in ihrem Umfeld.
Wenn Journalist:innen Informationen nur noch über rückverfolgbare Kanäle elektronisch entgegen nehmen können, gefährdet dies massiv die Pressefreiheit und beeinträchtigt damit wesentliche Funktionsbedingungen unserer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft.
Diese Effekte werden durch eine verdachtsunabhängige Identifizierungspflicht, durch eine Vorratsspeicherung von IP-Adressen sowie durch eine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung auf Messengeranbieter wie WhatsApp oder Signal gravierend verstärkt. Mit fatalen Auswirkungen. Anonymität im Internet wäre am Ende. Vielen Menschen wäre es unmöglich, noch unbelastet vom Risiko staatlicher Beobachtung sich in Notsituationen beraten und helfen zu lassen, ihre Meinung trotz öffentlichen Drucks zu äußern oder Missstände bekannt zu machen. Dies beträfe u.a. Presseinformanten, anonyme Strafanzeigen und ausländische Dissidenten.
Daher müssen sich unbescholtene Menschen auch weiterhin anonym mit Journalist:innen, Behörden, Anwaltskanzleien, Beratungsstellen und Ärzt:innen austauschen können, ohne dabei rückverfolgt werden zu können.
2. Missbrauchsrisiko und Gefahr für die Demokratie Link zu Überschrift
Eine verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung erzeugt erhebliche Risiken des Missbrauchs und des Verlusts vertraulicher Informationen über unsere persönlichen Kontakte, Bewegungen und Interessen. Telekommunikationsdaten sind außerdem besonders anfällig dafür, Unschuldige in den falschen Verdacht einer Straftat zu bringen und diese ungerechtfertigt strafrechtlichen Ermittlungen auszusetzen.
Das Mittel und die Möglichkeiten der Datennutzung einer IP-Vorratsdatenspeicherung in den Händen autoritärer Regierungen - und diese Gefahr ist (nicht nur, aber auch) in der EU derzeit größer denn je - vermag solch autoritären Repressionsgelüsten ein bislang unbekanntes Maß an Möglichkeiten und Schärfe zu verleihen, die demokratische Widerstände und demokratisches Engagement unmöglich machen können.
Diese Gefahr wird deutlich verschärft durch die Cybercrime-Konvention des Europarats (zweites Zusatzprotokoll) sowie insbesondere die Cybercrime-Konvention der Vereinten Nationen, die auch Unternehmen in EU-Staaten verpflichten, Vorratsdaten ggf. auch an Drittstaaten ohne vergleichbares Datenschutzniveau auszuliefern.
3. Wirtschaftliche Belastungen, Marktverzerrungen und Innovationshemmnisse Link zu Überschrift
Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung hat sich zudem als überflüssig und sogar kontraproduktiv bei der Beseitigung von Marktverzerrungen erwiesen. Durch den Zwang aller EU-Mitgliedstaaten zur Einführung von Gesetzen zur Vorratsdatenspeicherung hat die von 2006 bis 2014 bestehende EU-Richtlinie 2006/24/EG damals beispielsweise zu einem weit größeren Flickenteppich an nationalen Gesetzen geführt als sie ohne die Richtlinie existiert hätten. Auch eine neue EU-Verordnung würde erfahrungsgemäß nur Mindestvorgaben machen, zumal weiter gehende Anforderungen unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit ohnehin den Mitgliedsstaaten überlassen blieben. Es gibt mehrere alternative Möglichkeiten, Marktverzerrungen zu verhindern, ohne eine verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung in der gesamten EU anzuordnen (z.B. durch ein einheitliches Verbot nationaler Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung oder durch die Einführung einer obligatorischen Kostenerstattung dort, wo es solche nationalen Gesetze gibt).
Darüber hinaus werden die von der Kommission angedachten ausgeweiteten Zwangsspeicherungen von Identifikations- und IP-Daten auch durch Messengeranbieter insbesondere dann das Marktgeschehen verkomplizieren, sobald dies auch sehr verbreitete Dienste mit Hauptsitzen außerhalb des Unionsraumes trifft. Rechtsstreitigkeiten und erhöhter Bürokratieaufwand sind hier vorprogrammiert. Entsprechend der Diskussion um die Chatkontrolle droht auch bei Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung, dass weit verbreitete internationale Messengerdienste wie Signal in Europa ganz eingestellt werden.
Die kostspieligen und technisch sowohl aufwändigen als auch unnötigen zusätzlichen Speicherungen sind aber auf jeden Fall Innovationsbremsen für die europäische IT-Industrie, besonders für Start-ups oder kleinere Anbieter (wie z. B. unabhängige Messenger, Kommunikationsdienste) - bei gleichzeitigem Grundrechteabbau. Es besteht die Gefahr, Innovation zu behindern und Marktkonzentration zu fördern.
4. Fehlende Evidenz für die Wirksamkeit bei der Strafverfolgung Link zu Überschrift
Es hat sich herausgestellt, dass eine verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung zur Aufdeckung, Verfolgung und Bestrafung schwerer Straftaten überflüssig ist. Obwohl gespeicherte Kommunikationsdaten für diese Zwecke gelegentlich nützlich sein können, gibt es keinen Beleg dafür, dass dieser Nutzen speziell von einer flächendeckenden Vorratsspeicherung solcher Daten abhinge. Die Behauptung, eine verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung sei unverzichtbar für eine effektive Kriminalitätsbekämpfung, entbehrt jeglicher empirischer Grundlage.
So kommt eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2020 zu dem Ergebnis, dass es
“nicht möglich zu sein [scheint], einen direkten Zusammenhang zwischen der Tatsache, ob Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung bestehen oder nicht, und der Kriminalitätsstatistik herzustellen”.2
Im Gegenteil zeigen Kriminalstatistiken, dass es nicht einen einzigen EU-Mitgliedstaat gibt, in dem die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung einen statistisch signifikanten Einfluss auf die Begehung oder Aufklärung von Straftaten gehabt hätte. Die internationalen Kriminalitätsstatistiken belegen, dass Staaten in und außerhalb Europas (z.B. Deutschland, Österreich, Rumänien, Schweden, Tschechien, Kanada) Straftaten mit Hilfe gezielter Instrumente wie dem verdachtsbezogenen Aufzeichnen von Daten („Quick Freeze“) nicht weniger wirksam verfolgen.
Insofern sollte sich die EU-Kommission auf anlassbezogene, gezielte und schnelle Speicheranordnungen konzentrieren.
Laut einer Studie im Auftrag der EU-Kommission ("Study on the retention of electronic communications non-content data for law enforcement purposes", 20203) sind Verkehrsdatenabfragen „selten erfolglos“. Auch ohne Vorratsdatenspeicherung, so wird aus Deutschland berichtet, habe man Verfahren optimiert und bekomme Datenzugriff regelmäßig innerhalb von sieben Tagen.
Das Beispiel Deutschlands zeigt, wie Straftaten ohne Internet-Vorratsdatenspeicherung wirksam verfolgt werden: Die Aufklärungsquote bei Internetdelikten ist mit 62% überdurchschnittlich hoch und liegt im Bereich Kinderpornografie sogar bei 87%. Diese Zahlen waren nicht höher als Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft waren. Auch im EU-Ausland war nicht zu beobachten, dass Internet-Vorratsdatenspeicherung die Aufklärungsquote signifikant erhöht hätte.
Kriminelle Gruppen nutzen zunehmend anonyme Kommunikationswege, VPNs oder selbst betriebene Dienste, die durch Pflichten zur Vorratsdatenspeicherung ohnehin nicht erreichbar sind.
5. Wiederholtes Scheitern vor dem Europäischen Gerichtshof und Unzulässigkeit von Ideen „gezielter Vorratsdatenspeicherung“ Link zu Überschrift
Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung hat sich als grundrechtswidrig erwiesen und höchstgerichtlicher Überprüfung wiederholt nicht standgehalten. Wegen der Tiefe des Grundrechtseingriffs und des Fehlens von Belegen für einen statistisch signifikanten Einfluss der Maßnahme auf die Begehung und Verfolgung von Straftaten ist das Konzept des wahllosen Sammelns von Informationen über die tagtägliche Kommunikation jedes einzelnen Bürgers gerichtlich als unverhältnismäßig und unvereinbar mit der Europäischen Grundrechtecharta verworfen worden. Auch neue Pflichten zur Vorratsdatenspeicherung drohen wieder vor dem EuGH zu scheitern und wären nicht rechtssicher.
Zwar hat der Europäische Gerichtshof die pauschale Speicherung von Informationen über die Kontakte und Bewegungen aller Personen zum Schutz der “nationalen Sicherheit” in Ausnahmesituationen, wie z. B. bei einem drohenden Terroranschlag akzeptiert. Diese Ausnahme darf jedoch nicht wie in Frankreich zur Regel mutieren. Dem Rechtsgutachten eines ehemaligen EuGH-Richters4 zufolge weist die französische Praxis
“keine spezifische Bedrohung der nationalen Sicherheit nach, weil … sie sich auf ein bloßes allgemeines Risiko des Terrorismus und vergangener Anschläge in Frankreich bezieht. Ich habe keine Beweise für die spezifische oder identifizierte Vorbereitung eines spezifischen zukünftigen Anschlags gefunden."
Insofern stehe eine vorsorgliche, immer wieder verlängerte Vorratsdatenspeicherung unter dem Deckmantel der “nationalen Sicherheit” nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH und den Grundrechten, so das Gutachten.
Unzulässig sind auch die Vorschläge der EU-Kommission einer “gezielten Vorratsdatenspeicherung” laut Non-Paper vom 10. Juni 20215. Der ehemalige EuGH-Richter warnt, die Vorschläge zum
“geografischen Targeting … können dazu führen, dass Anbietern ungerechtfertigte rechtliche Verpflichtungen auferlegt werden, Verkehrs- und Standortdaten in sehr großen und unbestimmten geografischen Gebieten zu speichern”.
Die EU-Kommission schlug etwa vor, die Vorratsdatenspeicherung auf alle Personen in Gebieten mit einer (leicht) überdurchschnittlich hohen Kriminalitätsrate anzuwenden. Da Städte in der Regel eine überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsrate aufweisen, könnte dieser Ansatz mehr als 80 % der Bevölkerung einer Vorratsdatenspeicherung aussetzen. In dem Rechtsgutachten wird festgestellt, dass dieser Ansatz nicht zulässig ist und dass nach der Rechtsprechung des EuGH eine “hohe” (und nicht nur überdurchschnittliche) Inzidenz schwerer Straftaten in einem Gebiet vorliegen muss.
Die EU-Kommission schlug weiter vor, die Vorratsdatenspeicherung auf alle Personen anzuwenden, die sich
“in einem bestimmten Radius um sensible kritische Infrastrukturen, Verkehrsknotenpunkte, (…) wohlhabende Viertel, religiöse Gebäude, Schulen, Kultur- und Sportstätten, politische Versammlungen und internationale Gipfeltreffen, Parlamente, Gerichte, Einkaufszentren usw.”
aufhalten. Laut Rechtsgutachten entspricht diese lange Liste nicht den rechtlichen Anforderungen. Durch Anwendung dieser Kriterien könnten “weite Bereichen, die einen großen Teil des Territoriums und der Infrastruktur eines Mitgliedstaats abdecken, sogar allgemein und wahllos [erfasst] werden”. Von den von der EU-Kommission aufgelisteten Orten dürften nur solche erfasst werden, die “regelmäßig ein sehr hohes Besucheraufkommen aufweisen” und “besonders anfällig für die Begehung schwerer Straftaten” sind. Auch für die Erstreckung auf das Umfeld diese Orte (“Radius”) gebe es keine Rechtsgrundlage. Prof. Dr. iur. Vilenas Vadapalas warnt, dass “insbesondere an Stätten für Gottesdienste und politische Versammlungen besonders sensible Aktivitäten stattfinden, die Religion und politische Meinungen offenbaren”.
Die Kommission schlug außerdem vor, die Vorratsdatenspeicherung auf alle mit potenziellen Verdächtigen “verbundene Personen” anzuwenden, ohne zu überprüfen, ob von diesen Personen eine konkrete Gefahr der Begehung schwerer Straftaten ausgeht. Auch dies steht dem Gutachten zufolge nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH und den Grundrechten.
Mit dem Schlagwort “gezielte Vorratsdatenspeicherung” einen neuen EU-Zwang zur Vorratsdatenspeicherung einführen zu wollen, verschleiert nur den Umfang und die Wirkung einer solchen Maßnahme für alle Menschen in der EU und setzt einen zufälligen Teil der Bevölkerung - nämlich den, der etwa das Pech hat, in einer mit dem Begriff der “überdurchschnittlichen Kriminalität” stigmatisierten Gegend zu leben - einem noch weiter erhöhten Überwachungsdruck aus.
Auch eine Vorratsspeicherung von IP-Adressen hat der Europäische Gerichtshof zwar nicht ganz ausgeschlossen. Er hat aber hohe und schwer umsetzbare Auflagen gemacht. Ungeklärt ist beispielsweise auch, ob sich die Rechtsprechung auf Portnummern übertragen lässt, die für eine Identifizierung oft nötig wären, deren Vorratsspeicherung aber eine andere Qualität aufwiese.
6. Forderungen Link zu Überschrift
Der auf die Menschen ausgeübte Überwachungsdruck hat das schreckliche Potential, nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen sondern auch das Gemeinwohl. Denn Selbstbestimmung - und diese würde dadurch beschränkt werden - ist eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens.
Mit dem im Frühjahr 2025 erschienen und vom Bundesjustizministerium Deutschlands in Auftrag gegebenen Forschungsbericht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht “Pilotstudie Überwachungsgesamtrechnung für Deutschland”6 wurde ein allererster Schritt getan, um überhaupt erst Grundlagen für die Überlegungen zur Schaffung und Etablierung weiterer Überwachungsbefugnisse für Polizeien und Geheimdienste anzustellen. Die Verfassenden des Berichts schreiben:
“Das Instrument [der Überwachungsgesamtrechnung] zielt auf nichts weniger als darauf, den demokratischen Diskurs zu staatlichen Überwachungsmaßnahmen und damit die Sicherheitsrechtsdiskussion insgesamt auf ein neues, aufgeklärteres Niveau zu heben, von dem alle Beteiligten, Sicherheitsbehörden, Gesetzgeber und nicht zuletzt die Zivilgesellschaft, nur profitieren können.”
Dem stimmen wir zu und fordern nicht nur eine entsprechende Fortführung der diesbezüglichen wissenschaftlichen Untersuchungen in Deutschland sondern eine entsprechende Initiative der EU-Kommission zur Schaffung einer wissenschaftlich arbeitenden, neutralen und unabhängigen Institution zur Erstellung von Überwachungsgesamtrechnungen und zur Untersuchung der Auswirkungen von Überwachungsmaßnahmen auf die Menschen und die Entwicklung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen.
Wir fordern weiter:
Die EU muss aufhören, all ihren Mitgliedsstaaten eine verdachtsunabhängige und massenhafte Vorratsdatenspeicherung oder Identifizierungspflicht aufzwingen zu wollen. Die EU-Kommission sollte ein Verbot nationaler Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung zugunsten gezielter, anlassbezogener und verhältnismäßiger Verfahren vorschlagen, wie sie im Europaratsübereinkommen zur Computerkriminalität vereinbart worden sind, um Verdächtige schwerer Straftaten ins Visier zu nehmen anstatt alle 500 Millionen EU-Bürger unter Generalverdacht zu stellen.
Anonyme Kommunikation als unverzichtbarer Bestandteil eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens darf nicht verboten oder in seiner Nutzung behindert werden, sondern gehört im Gegenteil unterstützt und gefördert.
- Juni 2025
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung in Kooperation mit den Menschen vom freiheitsfoo und des Kleindatenvereins.
Verweise:
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Umfrage: Vorratsdatenspeicherung schadet der Bevölkerung: https://www.patrick-breyer.de/umfrage-vorratsdatenspeicherung-schadet-der-bevoelkerung/ ↩︎
-
Studie: Strafverfolgung funktioniert ohne Vorratsdatenspeicherung: https://www.patrick-breyer.de/studie-strafverfolgung-funktioniert-ohne-vorratsdatenspeicherung/ ↩︎
-
Study on the retention of electronic communications non-content data for law enforcement purposes https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/081c7f15-39d3-11eb-b27b-01aa75ed71a1 ↩︎
-
Legal Opinion of Prof. Dr. iur. Vilenas Vadapalas: https://www.patrick-breyer.de/wp-content/uploads/2022/04/20220407_Legal_Opinion_Data_Retention_Vadapalas_updated-SimeonTC-VV-REV.pdf ↩︎
-
Non-paper on the way forward on data retention vom 10. Juni 2021: https://cdn.netzpolitik.org/wp-upload/2021/07/wk07294.en211.pdf ↩︎
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Forschungsbericht Überwachungsgesamtrechnung des MPI (Januar 2025) https://www.bmj.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Fachpublikationen/2025_Forschungsbericht_Ueberwachungsgesamtrechnung.pdf?__blob=publicationFile&v=6 ↩︎